Retrospektive unterm Funkturm
Im Jahr 1930 wurde die Berliner Kunstkammer erstmals Gegenstand einer Sonderausstellung. Den Anlass dafür gaben das 100-jährige Jubiläum der Staatlichen Museen zu Berlin und die Wiederentdeckung der einstigen Sammlungsräume im Schloss durch Otto Reichl.
Die Ausstellung Altes Berlin - Fundamente der Weltstadt war vom 23. Mai bis 3. August 1930 in den großflächigen Hallen des Funkturmgeländes zu sehen und nahm die Entwicklung der Stadt zum wirtschaftlichen und kulturellen Mittelpunkt in den Blick. Unter den insgesamt 146 Räumen stellten drei die Brandenburgisch-Preußische Kunstkammer als Keimzelle der Berliner Museen in den Vordergrund und wurden nach Vorbild der Sammlungsräume im Schloss aufwändig von Bühnenbildnern rekonstruiert: die Modellkammer (Raum 992), die Instrumentenkammer (Raum 991) und die Naturalienkammer (Raum 990). Von letzteren beiden Ausstellungsräumen haben sich sogar Fotografien erhalten (Fotografie Instrumentenkammer und Naturalienkammer).
Die Räume konnten von den Besuchenden der Ausstellung durchschritten werden, weshalb sie mit verhältnismäßig wenigen Objekten bestückt wurden. Bei den Exponaten der Instrumenten- und der Naturalienkammer handelte es sich um Objekte, die sich nachweislich in der Kunstkammer befunden hatten, so etwa das in einen Baumstamm eingewachsene Hirschgeweih oder den Bogenschnitzenden Amor von François Duquesnoy. Auf Texttafeln wurde verzichtet, um eine vermeintlich authentische Atmosphäre zu erzeugen. Und die Besuchenden schienen von der Präsentation sehr angetan:
In den Vitrinen herrschte das bunte Durcheinander, das wir aus den Inventaren alter Sammlungen kennen, Natur- und Kunstgegenstände aus allen Gebieten waren vermischt, in jeder Ecke konnte man etwas anderes und überraschendes sehen; das Verhalten des Publikums ließ dabei erkennen, daß die alte Art der nicht so stark spezialisierten Museen auch heute noch populär sein würde. (Otto Reichl: Die Staatlichen Museen auf der Ausstellung »Alt-Berlin«, Berliner Museen 52, H. 1, 1931)
Zu jener Zeit wurden Kunstkammern noch als Sammelsurien betrachtet und ihre komplexe Ordnung verkannt, was mitunter aus der breit rezipierten Publikation von Julius von Schlosser Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance aus dem Jahr 1908 herrührte.
Diese Ausstellung, die nicht nur einen Meilenstein in der Geschichte der Berliner Kunstkammer im 20. Jahrhundert darstellt, sondern ebenso einen in der musealen Ausstellungspraxis des frühneuzeitlichen Sammlungstyps, wäre ohne Otto Reichl nicht denkbar gewesen. Er trug die verstreuten Archivalien der Kunstkammer zusammen, machte sich auf die Suche nach den in Vergessenheit geratenen Sammlungsräumen und erkannte den kulturhistorischen Wert der noch erhaltenen Raumdekors. Die Ausstellung zur Berliner Kunstkammer in den Funkturmhallen 1930 sollte eine Vorstufe zu einer permanenten Wiedereinrichtung im Schloss werden und damit neben die Kunst- und Naturalienkammer der Franckeschen Stiftungen Halle ein zweites Beispiel stellen. Dazu sollte es aber nicht kommen. Aufgrund seiner jüdischen Wurzeln wurde Otto Reichl verfolgt, floh nach London und musste sein Lebenswerk unvollendet zurücklassen. Mit seiner Flucht geriet die Berliner Kunstkammer für Jahrzehnte in Vergessenheit.
Sarah Wagner
Für tiefere Einblicke in die Ausstellung von 1930 siehe
Sarah Wagner: 1930 – Retrospektive unterm Funkturm. Die Ausstellung als Rekonstruktionsmedium (in: Die Berliner Kunstkammer. Sammlungsgeschichte in Objektbiografien vom 16. bis 21. Jahrhundert, Petersberg 2023).