Ein Orgelbauer schaut sich um
Aus dem späten 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist eine Anzahl von mehr oder minder ausführlichen Reiseberichten individueller Besucher der Berliner Kunstkammer überliefert. Zu ihnen zählten gelehrte Gäste wie der niederländische Philologe Jakob Tollius 1687, Aristokraten auf Kavalierstour wie die Gruppe um den österreichischen Grafen Rindsmaul 1706 oder namentlich unbekannte Reisende aus deutschen Landen oder etwa auch aus Italien wie 1708 der Gast, dem die Forschung den Notnamen Anonimo Veneziano gegeben hat. Sie alle sahen sich an, was es in der brandenburg-preußischen Residenzstadt zu bestaunen gab, ließen sich durch die fürstlichen Sammlungen in Bibliothek, Antikenkabinett, Kunst- und Rüstkammer führen und machten sich Notizen, wie es die zeitgenössischen Anleitungen zur Reisekunst empfahlen. 1727 veröffentlichte Wolff Bernhard von Tschirnhaus eine Auflistung Was merckwürdiges auf der Kunst-Kammer in Berlin zu sehen, die sich auf seinen Besuch am 27. Februar 1713 bezog und nun als Model eines Academie- und Reise-Journals präsentiert wurde. All diese Quellen stammen von männlichen Autoren; weibliche Stimmen sind nur indirekt zu vernehmen.
2014 erwarb die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden das Reisetagebuch des elsässischen Orgelbauers Johann Andreas Silbermann (1712-1783). Der junge Straßburger reiste 1741 nach Mitteldeutschland, um in Sachsen die Heimat seiner Instrumentenbauer-Familie kennenzulernen. In Zittau traf er mit seinem Onkel Gottfried deren berühmtestes Mitglied, dessen Werke zu den Höhepunkten barocker Orgelbaukunst zählen, während auch Johann Andreas’ Werkstatt knapp fünf Dutzend Orgeln hervorbringen sollte. Auf seiner Reise notierte sich Silbermann, was er an den besuchten Orten interessant fand, und fügte Skizzen, Kupferstiche und Zeitungsausschnitte bei. Größte Aufmerksamkeit fanden, wie kaum überraschen kann, Musikleben und Orgeln, doch widmete der Reisende bei seinem Besuch in Berlin auch 16 Seiten seiner Besichtigung von Bibliothek, Kunstkammer und Antikenkabinett am 6. Juni 1741, einem Dienstag.
Silbermanns Aufzeichnungen gehören zu einer kleinen Gruppe von handschriftlichen Kunstkammer-Berichten um 1740, die aus Sicht gewöhnlicher Besucher ein Bild der Sammlung zu einer Zeit zeichnen, aus der so gut wie keine Inventare überliefert sind. Während sich andere Gäste auf Auflistungen von ausgewählten Objekten beschränkten, die sehr dem Tschirnhaus’schen Model ähneln, sparte Silbermann nicht mit Bemerkungen, die eine lebendige Vorstellung der Führungspraxis vermitteln. So gab man ihm etwa den Fuchsbalg mit zwei Schwänzen „zu visitieren […], um zu sehen ob keiner angenähet ist“, und wenn „eine vergulde Kugel“ (wohl aus dem Pommerschen Kunstschrank) geschüttelt wurde, „so hörte man darinnen eine sehr schönen und hellen Klang.“ Allerdings schrieb Silbermann aus der Erinnerung, da ihm nicht gestattet wurde, sich auf seiner „Schreibtaffel“ Notizen zu machen, was vollkommen unüblich war und auch für Berlin nirgendwo sonst erwähnt wird – hatte er seinen Cicerone verärgert?
Obwohl er in Bibliothek, Kunstkammer und Antikenkabinett von verschiedenen Bevollmächtigten geführt wurde, spielte die institutionelle Trennung der Sammlungen für Silbermann wie für andere Reisende keine Rolle. „[S]o viel ich mich noch besinne, so sahe ich zu erst einen Bezoar Bock, welcher aus Africa gekommen“, beginnt Silbermann seine Aufzählung des Sehenswerten, nachdem er wohl über die Wendeltreppe von der Bibliothek aus die Kunstkammer betreten hatte, und belegt damit, wie die Inszenierung besonders spektakulärer Exponate im ersten Raum der Sammlung (Raum 991/992) ihre Wirkung nicht verfehlte. Die prachtvolle architektonische Gestaltung der Raumhüllen oder die Ikonografie der Deckenbilder aber erwähnt er nicht.
Getreu erinnert er sich an die Informationen, die ihm sein Führer zu einer Auswahl von Objekten vermittelt hatte, wobei er seine Aufzeichnungen auch im Nachhinein immer wieder korrigierte und ergänzte. So ernähre sich der Bezoar Bock „von lauter Wurseln“, und besondere Aufmerksamkeit widmet Silbermann Curiosa wie zwei Kanonenkugeln, die sich bei der Belagerung Magdeburgs in der Luft getroffen, oder dem zersprungenen Würfel, mit dem zwei Soldaten um ihr Leben gespielt hatten. Für all diese Objekte protokolliert er die Anekdoten, die in den Inventaren hinterlegt waren, ihm mündlich kommuniziert wurden und mit denen sich erst der Sinn der oft unscheinbaren Objekte entfaltete. Für ein verschlucktes und operativ wieder entferntes Messer fügt er eine Zeichnung bei – leider zeigt sie nicht das Berliner Exponat, sondern ein Vergleichsstück.
Kunstwerke stießen auf geringeres Interesse. Wenn er zu Gottfried Leygebes eisernem Großen Kurfürsten notiert, „[d]iese Statue ist unter dreyn die beste gewesen“, so referiert er Gehörtes ohne eigenes Urteilsvermögen. Zum prototypischen Kunstkammer-Stück des prachtvollen Pokals Rudolfs II. heißt es allerdings: „ich ließ mir denselben zwey mahl weisen, und kunte mich fast nicht satt daran sehen.“
Die Naturalia der Sammlung hat Silbermann – zumindest in seiner Erinnerung – hingegen abgesehen von Bezoar Bock und 2 Africanische[n] Esel[n] (Zebras) ignoriert. Aber er schaute, wie ihm als Standardprocedere geheißen, aus dem Fenster und bezeichnet den Prospekt der umliegenden Gegend als „was unvergleichliches.“
Marcus Becker
Objekte, die Silbermann in seinem Reisebericht erwähnt
Für tiefere Einblicke zum Thema siehe
Marcus Becker: Ein zersprungener Würfel – Spielen um das liebe Leben; sowie ders.: Um 1740 – Aneignungen. Kanon und Besuchsjournal (in: Die Berliner Kunstkammer. Sammlungsgeschichte in Objektbiografien vom 16. bis 21. Jahrhundert, Petersberg 2023).